©Stephan Fuchs
journalismus – nachrichten von heute
Mit
stillen Gebeten und Hilfsappellen haben Japaner heute Sonntag der Opfer des
verheerenden Saringas-Anschlags auf die Tokioter U-Bahn vor zehn Jahren
gedacht. Damals starben 12 Menschen, mehr als 5500 wurden verletzt. Die
japanische Aum Sekte, unter dem Sektengründer Shoko Asahara wurde für den
Anschlag verantwortlich gemacht.
"Mit Hilfe von Sarin werden wir große Städte ausradieren"
20. März 1995, gegen acht Uhr morgens: Fünf Züge der U-Bahnlinien Eidan,
Chiyoda, Hibiya und Marunouchi haben fast die Stadtmitte von Tokyo erreicht. Nahezu
gleichzeitig stechen Mitglieder der Endzeitsekte Aum Shrin Kyo-Sekte
Plastiktüten voll mit Sarin auf und setzen dabei das tödliches Nervengas frei.
Zwölf Fahrgäste sterben, über 5500 Menschen werden verletzt. Insgesamt waren 15
Stationen in Tokio betroffen. An diesem Tag wurde ein neues Kapitel in der
Geschichte des Terrorismus geschrieben.
Die Aufnahme von Sarin ist über die Haut und die Atmung möglich. Nur ein
Ganzkörperschutz verhindert sicher eine Aufnahme des Stoffes. Der Tod tritt
durch Atemlähmung ein. Die Wirkung ähnelt den verwandten chemischen
Kampfstoffen Tabun, Soman und VX, aber auch Vergiftungen mit verschiedenen
Insektiziden wie Parathion.
Die in Tokio freigesetzte Substanz Sarin wurde 1939 während der Forschung an
Phosphorverbindungen für den Einsatz als Insektenvernichtungsmittel entdeckt.
Auftraggeber der Forschung war wie auch bei Tabun und Soman die IG-Farben.
Als letzte Aktion versuchten die Aum-Mitglieder am 5. Mai 1995, dem nationalen
"Kinderfeiertag" in Japan, einen Angriff mit Hydrogenzyanid (auch
bekannt als Zyklon B) durchzuführen. Die Operation Scheiterte zum Glück, denn
der Anschlag hätte Zehntausenden von Menschen das Leben kosten können.
Frühere Anschläge der Sekte
Bereits im April 1990 versprühte die Aum-Sekte im Zentrum von Tokio und vor dem
Parlamentsgebäude Botulintoxin (bakterielle Lebensmittelvergiftung). Der
Anschlag erwies sich zum Glück als unwirksam. Ein weiterer Anschlag im Juni
1990 mit Botulin im Stadtzentrum von Tokio scheiterte ebenfalls.
Man vermutet, dass die Gruppe im Juli 1990 Anthrax verteilen wollte. Im Juni
1994 versuchten Mitglieder der Sekte drei Richter wegen einem Zivilprozeß gegen
die Aum-Sekte im Ferienort Matsumoto mit Sarin zu töten. Sektenmitglieder
besprühten einen Wohnblock mit Sarin, wodurch 7 Personen starben und weitere
250 in das örtliche Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Richter erkrankten
schwer, überlebten aber den Anschlag. Der Anschlag in Matsumoto gilt als erster
ziviler Sarin Anschlag.
Chizuo Matsumoto: Gottes Heer führen
Die japanische Endzeit-Sekte wurde durch Shoko Asahara (eigentlich: Chizuo
Matsumoto) 1987 gegründet. Ashara war früher ein Händler von Heilkräutern sowie
Eigentümer von mehreren Yogaschulen in Japan. Nach seiner Reise 1986 in den
Himalaja, kehrte er als selbsternannter Prophet und Visionist zurück. Laut
Ashara sei er auserwählt worden "Gottes Heer zu führen". Er glaubte,
dass nach der Jahrtausendwende nur eine göttliche Rasse überleben und ein
Japaner diese leiten wird.
Die Sekte eröffnete mehrere Büros in Japan und fand wegen seiner mystisch
spirituellen Art aus Buddhismus und Hinduismus verbunden mit apokalyptischen
Auffassungen sehr schnell Anklang bei den Japanern. Ende 1987 verfügte die
Aum-Sekte bereits über 1500 Mitglieder in verschiedenen Städten.
Auf einem Aum-Kongreß 1987 verkündete Ashara den Ausbruch des Atomkrieges mit
Sicherheit zwischen 1999 und 2003. Jeder solle daher Mitglied der Aum-Sekte
werden um diese Katastrophe abzuwehren. Ashara sah die USA auch als eine
"nukleare Gefahr" für Japan und sagte einen Angriff der Amerikaner
mit Nervengas und Atomwaffen voraus. Ashara erfand immer mehr groteskere
Verschwörungstheorien, von rätselhaftem Zusammenwirken von Freimaurern, Juden
und Großkonzernen bis zu Behauptungen von der Unterwanderung der japanischen
Regierung durch die USA und deren Verantwortung an der Erdbebenkatastrophe von
Kobe 1995.
Im November 1989 wird in Yokohama der japanische Rechtsanwalt Tsutsumi
Sakamoto, der Angehörige von Aum-Anhängern vertritt, zusammen mit seiner Frau und
seinem einjährigen Sohn getötet, nach dem Stand der Ermittlungen auf Anordnung
von Asahara.
1995 hatte die Aum-Sekte in Japan 10000 Mitglieder, organisiert in 24
Unterorganisationen, in Rußland schätzungsweise 20.000 und in 6 weiteren
Ländern nochmals insgesamt 15.000 Anhänger, u.a. in den USA, Australien,
Deutschland, Russland und Sri Lanka. Das Vermögen der Sekte wurde auf mehr als
1 Milliarde US-Dollar geschätzt.
Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst
Die Aum-Sekte hatte gute Kontakte zur "Alpha" -Anti-Terroreinheit des
ehemals sowjetischen Geheimdienstes KGB. Aum-Aktivisten in der verdeckten
Kriegsführung (Sabotage, Attentate, Entführung, Spionage) ausgebildet. So
sollen auch große Mengen an Raketenwerfern und Sturmgewehren aus Beständen des
ehemaligen KGB gekauft worden sein. Auch ein Hubschrauber russischen Typs zum
Versprühen von Chemikalien konnte geordert werden. Eigene Produktionsanlagen
konnten das Sturmgewehr AK-47 Kalaschnikow nachbauen und Sprengstoff vom Typ
TNT und RDX herstellen können.
1993 forderte Ashara zur Verhinderung des Weltuntergangs die schnelle
Beschaffung von Waffenmaterial. Um diese Ziel zu erreichen rekrutierten die
Sekte Wissenschaftler und Techniker aus Japan, Russland und anderen Ländern.
Aus Russland sogar zwei Nuklearwissenschaftler. In Westaustralien kaufte die
Aum-SekteAnfang der 90er Jahre ein großes Stück Land einer ehemaligen
Schaffarm, genannt Banjawarn Station, in der Hoffnung dort Uranmaterial zu
finden. Am 28. Mai 1993 kam es in der Nähe zu einer gewaltigen Explosion, deren
Ursache nicht geklärt werden konnte.
Ermittlungen
Zwei Tage nach dem U-Bahn Anschlag, am 22. März, begann die Polizei an
verschiedenen Orten in Gebäuden der Aum-Sekte zu ermitteln. Anlass war jedoch
nicht der Verdacht der Benutzung von Sarin, sondern die Entführung von Herrn
Kariya, Geschäftsleiter am Meguro-Notariat, die am 28. Februar stattgefunden
hatte.
Mehrere Leute vermuteten jedoch schon zu diesem Zeitpunkt, dass auch der
Sarin-Anschlag von der Aum-Sekte begangen worden sei: zum einen, weil diese Tat
so abnorm war, dass sie nur von Überzeugungstätern mit religiösem Hintergrund
begangen worden sein konnte, und zum anderen, weil schon im Herbst des
Vorjahres in einigen Zeitschriften berichtet worden war, dass von einem Gebäude
der Aum-Sekte üble Gerüche ausgegangen waren und im Gras in der Nähe dieses
Gebäudes Sarinrückstände nachgewiesen wurden. Es war allerdings bekannt, dass
die Aum-Sekte auf solche Behauptungen mit Anzeigen wegen
"Ehrverletzung" reagiert hatte und mit den Klägern nicht zimperlich
umsprang.
Nach der Erstürmung des Sekteneigenen Satian-7-Laboratorium durch japanische
Sicherheitskräfte, fand man eine ausreichende Menge Sarin, um schätzungsweise 4
Mio. Menschen zu töten. Außerdem fand man bereits produzierte oder in Zukunft
zur Herstellung vorgesehene Nervengase wie Tabun, VX-Gas und Soman. Auch
chemische Kampfstoffe wie Senfgas und Sodiumzyanid sollte hergestellt werden.
100 Gramm der halluzinatorischen Droge LSD und 3 Kilogramm Meskalin wurde
ebenfalls gefunden.
Schliesslich wurde Shoko Asahara am 16. Mai 1995 verhaftet. Nach einem
achtjährigen Prozess war der inzwischen 50-jährige Asahara wegen des Anschlags
auf die U-Bahn in Tokio und anderer Verbrechen zum Tod verurteilt worden.
Schweigeminute für die Opfer
Am Bahnhof des Regierungsviertels Kasumigaseki legten Bahnbeamte und Betroffene
um 8.00 Uhr eine Schweigeminute ein. Noch heute müssen viele der Opfer des
Anschlages weiter unter den psychischen, physischen und finanziellen Folgen
leiden. Die Betroffenen werfen der Regierung vor, die Opfer praktisch im Stich
gelassen zu haben. Trotz wiederholter Appelle habe der Staat es an
substanzieller Hilfe in all den Jahren fehlen lassen.
Die inzwischen in Aleph umbenannte Sekte entschuldigte sich anlässlich des 10.
Jahrestages der Anschlags erneut bei den Opfern und versprach, so etwas nie
wieder zu tun und sich weiter um Entschädigung zu bemühen.
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