Was ist in Guantánamo wirklich passiert?
©Klaus
Bonanomi
01-06-2005
Es war nur eine kleine Meldung, aber sie hatte ungeahnte Folgen:
Das US-Nachrichtenmagazin Newsweek berichtete in seiner Ausgabe vom 9. Mai über
Koranschändungen im Straflager Guantánamo.
Amerikanische Aufseher hätten muslimische Häftlinge gedemütigt, indem sie einen
Koran die Toilette hinuntergespült hätten. Die Notiz unter dem Titel «SouthCom Showdown » löste in mehreren islamischen Ländern
schwere anti-amerikanische Ausschreitungen und Unruhen aus, 17 Menschen kamen
ums Leben.
Wäre die Meldung im Gürbetaler
Volksblatt erschienen, dann wäre wohl nichts passiert - aber wenn ein
renommiertes und weltweit beachtetes Magazin wie Newsweek so etwas schreibt,
dann hat dies Folgen. Aufgeschreckt durch die anti-amerikanischen Proteste,
hakte die US-Regierung bei Newsweek nach – und der Chefredaktor des Blattes
musste die Story zurückziehen, weil der anonyme Informant im Pentagon, der die
Quelle für die Newsweek-Reporter war, nicht mehr zu seiner ursprünglichen
Aussage stehen wollte. Und damit stand Newsweek im Regen: «Der Rückzug einer
Story ist nicht nur das Eingeständnis einer peinlichen Fehlleistung, sondern
kann auch die Glaubwürdigkeit der betreffenden Zeitung und der Medien insgesamt
schädigen», sagte mir in einem Gespräch dazu der ehemalige US-Korrespondent und
heutige Präsident des Schweizer Presserates, Peter Studer.
Studer war in den Siebziger Jahren in den USA tätig, als der Watergate-Skandal aufflog - für Spätgeborene: Zwei Reporter
der Washington Post fanden damals heraus, dass die Republikaner von
US-Präsident Nixon das Wahlkampf-Hauptquartier der Demokraten im Watergate-
Hotel ausspioniert hatten. Der Skandal führte zum Rücktritt von Präsident Nixon
und gilt heute als Sternstunde des investigativen
Journalismus. «Die beiden Reporter stützten sich dabei ebenfalls auf einen
anonymen Informanten – aber sie verifizierten jede Aussage durch zusätzliche
Befragungen und Recherchen», so Studer. «Seither gilt
diese sogenannte «Zwei-Quellen- Regel» als
journalistischer Standard für den Umgang mit Aussagen aus anonymer oder
ungesicherter Herkunft. Und die Newsweek-Story über die Koranschändungen hat
diesen Standard nicht erfüllt.»
Hat als Newsweek einfach geschlampt? So einfach ist es auch
wieder nicht. «Newsweek hat einen Fehler gemacht, und dieser Fehler wird
analysiert werden», sagte der Journalist und Pulitzer-Preisträger Carl
Bernstein, einer der beiden Watergate Reporter, kürzlich an einer Veranstaltung
in Hamburg. Doch der Fehler werde nun von der Regierung Bush aufgebauscht und
zu einer allgemeinen Kampagne gegen unabhängige Medien in den USA ausgeweitet.
Es herrsche zurzeit, so Bernstein, «eine gesellschaftliche und ideologische
Kriegsführung, die wir in den Vereinigten Staaten seit dem Bürgerkrieg nicht
mehr erlebt haben.»
Und auch andere namhafte Journalisten in den USA beklagen, dass
die Regierung Bush in den letzten Jahren den Druck auf die unabhängigen Medien
verschärft habe, unter dem Vorwand «Kampf gegen den Terrorismus». So würden vom
Weissen Haus viel mehr Dokumente als früher geheim gehalten; in Zusammenarbeit
mit PR Agenturen würden regierungsfreundliche Videos für die Nachrichtensender
verbreitet, anstatt neutral zu informieren. Und die Bush-Administration gehe
gar so weit, kritische Journalisten zu manipulieren oder zu kaufen, wie das
Medienmagazin Klartext im April berichtete: «In den vergangenen Wochen wurde
bekannt, dass gleich drei JournalistInnen, die als
unabhängige KommentatorInnen galten, von der
Administration fette Honorare bekamen, um die Bush-Politik in ihren Artikeln zu
loben.»
Die Neue Zürcher Zeitung machte im Mai darauf aufmerksam, dass
die von den Republikanern dominierte amerikanische Radio-Aufsichtsbehörde
versuche, das unabhängige National Public Radio auf konservativen Kurs zu
trimmen. So wie dies bereits bei den unzähligen Radio-Talkshows auf den
Privatsendern geschieht, wo reaktionäre Talkmaster à la Rush
Limbaugh gegen Liberale und Linke hetzen.
In diesem Klima kommt dem Weissen Haus natürlich eine
Falschmeldung bei Newsweek wohl zupass. Newsweek hat unterdessen aber auch
reagiert - und unter dem Titel « What really happened at Guantánamo?» die Geschichte mit dem Koran im Straflager
minuziös recherchiert. Dabei kam heraus, dass ein muslimischer Gefangener
selber seinen Koran neben das Klo gelegt hatte - und dass daraufhin in dem
Straflager das Gerücht die Runde machte, ein Aufseher habe das Heilige Buch
hinuntergespült. Der Vorfall ereignete sich bereits 2002; das Gerücht war dann
auch dem Pentagon zu Ohren gekommen und von dort aus zu Newsweek gelangt. Auch
das IKRK hat unterdessen mitgeteilt, mehrere Häftlinge hätten über
Koranschändungen und andere Demütigungen in US-Straflagern berichtet; und die
Los Angeles Times hat gestützt auf Informationen von US Militärpersonal,
ehemaligen Gefangenen und aus offiziellen Vernehmungsprotokollen ähnliche
Vorwürfe erhoben. So habe ein Wärter einem Koran mit den Füssen getreten, in
einem anderen Fall habe man das Buch gar einem Hund zum Frass vorgeworfen! Die
ursprüngliche Falschmeldung von Newsweek hat also doch einiges an richtiger
Information ausgelöst...
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